Die Wienerin Cecily Corti wurde für ihr soziales Engagement mehrfach ausgezeichnet. Inspiriert von der Grazer VinziRast, öffnete sie mit viel Unterstützung von privaten Geldgebern 2004 die Pforten zur VinziRast, einer Notschlafstelle für Obdachlose in Wien. 2008 kam das VinziRast-CortiHaus hinzu. Hier finden Menschen temporär oder auf Dauer ein Zuhause. Kurz vor Weihnachten 2013 traf ich sie im VinziRast-CortiHaus.

Interview: Mascha K. Horngacher
Fotos: Bernhard Wolf

Wie viele Menschen sind in Wien auf die Dienstleistungen der VinziRast angewiesen?
Cecily Corti: Ich kenne auch nur eine Dunkelziffer aus den Medien. Als wir angefangen haben 2002 hieß es zwischen 500 und 700 Menschen sind in Wien obdachlos. Darunter befinden sich auch Menschen, die tatsächlich nicht unter ein Dach wollen. Vielleicht weil das, was sie erlebt haben immer an Bedingungen geknüpft war.
Wir sind auch nicht völlig bedingungslos. Wir haben auch Bedingungen, zum Beispiel die Nachtruhe, Waschen, Pünktlich-Sein und Ordnung. Deshalb gibt es auch manche Menschen, die das Leben auf der Straße wählen;
Also mittlerweile sind es bestimmt mehr Menschen, weil mehr nachströmen – aus dem Nahen Osten, Nord- und Zentralafrika.

Stichwort „Bedingungslos“: Was glauben Sie, ist das Wichtigste für die Menschen, damit sie die Hilfe annehmen können?
Cecily Corti: Ein Großteil der Menschen wollen Trockenheit, ein warmes Bett und Ruhe in der Nacht; Grundsätzlich sind sie gewöhnt, dass das an Bedingungen geknüpft ist;  Wir schauen darauf, dass Menschen den Beitrag von zwei Euro pro Tag leisten. Wir bemühen uns einen Mittelweg zu gehen, zeigen aber auch deutlich Grenzen auf. Nicht Mitleid, sondern Würde wird vermitteln; Die Menschen wollen nicht als bedürftig gekennzeichnet sein.

Was ist, wenn der Gast keine zwei Euro hat?
Cecily Corti: Es kann schon vorkommen, dass es mal nicht geht. Aber dafür entwickeln wir ein Gespür für Menschen, die unser Entgegenkommen ausnutzen oder wirklich in Not sind;  Wir sehen in welchem physischen und psychischen Zustand sie sind; es gibt Menschen, die keine Chance haben, in einer offiziellen Einrichtung der Stadt Wien oder Caritas unterzukommen. Es wäre unzumutbar diese dann auf der Straße zu lassen; Der Mensch, der zu uns kommt, ist in irgendeiner Form in Not. Selbst wenn er ein Auto vor der Tür stehen hat, in dem er zur Not auch schlafen kann; er wird vielleicht sonst überhaupt nichts haben.

Wir leben ein grundsätzliches Ja zum Menschen, egal aus welchem Land er kommt. Mit der Zeit spüren die Menschen das.

Warum kommen Menschen gerade nach Österreich?
Cecily Corti: Es ist die wahnsinnige Diskrepanz in einigen osteuropäischen Ländern, in denen Obdachlosigkeit sogar verboten ist; diese Wohnungsnot und dann unser Überfluss; Natürlich gibt es auch bei uns arme Menschen, aber generell geht es dem Land und den Menschen hier gut;
In anderen Ländern ist die Gastfreundschaft sehr groß, aber viele Österreicher können die Lebenssituation anderer nicht nachvollziehen;

Sie und ihre Mitarbeiter können das.
Cecily Corti: Einfach tun, was zu tun ist und die Menschen ernst nehmen – das ist mir sehr wichtig geworden. Auch die Qualität einer Beziehung und das Verstehen vom Menschsein. Wie selbstverständlich wir mit Vorurteilen und Urteilen umgehen. Es ist in unserer Gesellschaft auch wie selbstverständlich, etwas erwarten zu dürfen. Das zu vergegenwärtigen und erfahren, dass es gar keine Rolle spielt, was ich erwarte, einfach tun, was zu tun ist und dafür keine Gegenleistung erwarten, das ist ein Übungsweg; Mir liegt daran, auch in meinem Leben, solche Dinge zu erkennen. Ich glaube nicht an Systeme und Ideologien. Wenn sich was ändern kann in dieser Welt, weil ich in mir das ändere, was ich mir von anderen erhoffe und ersehne.

Sie haben Würde erwähnt. Sie ist für Menschen wichtig zu behalten. Der zwei Euro Beitrag hat wahrscheinlich hier Bedeutung.
Cecily Corti: Ja, so ist es. Die 2 Euro sind eine Gegenleistung; es stellt eine Balance her. Viele bieten in der VinziRast kostenlos ihre Dienstleistung an, Heilmasseure zum Beispiel; und viele VinziGäste geben im Gegenzug etwas, zum Beispiel eine Zeichnung; Unsere Würde wird beschädigt, wenn wir zulassen, dass es Menschen so ergeht, wie wir das erleben;

Ist Teilen ihrer Meinung nach in Österreich zu wenig gelernt, vielleicht verlernt?
Cecily Corti: Das glaube ich nicht. Aber ich glaube, dass Teilen etwas ganz Selbstverständliches wird, wenn ich mich als Teil dieser Welt erlebe. Dann hat alles eine Rückwirkung auf mich und die Verbundenheit wird auf einer tieferen Ebene spürbar. Aber ich glaube nicht, dass man das aufoktroyieren kann oder soll. Österreicher sind schon bekannt dafür, dass sie viel spenden. Es ist nur etwas anderes, wenn ein Bewusstseinsprozess damit einhergeht;

Mutter Theresa sagte eine Spende ist erst eine Spende, wenn es dir weh tut. Das würde ich nicht sagen. Es muss nicht wehtun. Es muss das Bedürfnis in mir sein, dass etwas weg fließt von mir. Es muss keine Gabe sein, sondern nur Anteilnahme an dem Menschen, der mir gegenübersitzt. Ich muss es auch aushalten, keinen Rat zu geben. Der andere kann Nähe spüren und Verbundenheit. Es soll Freude machen.

Wie erfahren Sie die Bewusstseinsveränderungen in unser Gesellschaft: Sind wir Österreicher am Weg?
Cecily Corti: Ich erlebe es bei den Mitarbeitern. Es ist Learning by Doing. Ich lerne von Menschen, denen ich begegne. Die eine Offenheit und eine innere Großzügigkeit ausstrahlen. Das hat mich immer angespornt. Ich habe auch schmerzhafte Prozesse erlebt. In denen habe ich gelernt, dass Schmerz mit mir zu tun hat. Jemand anderen würde zum Beispiel dieselbe Situation überhaupt nicht wehtun. Du bist das Fenster, durch das du die Welt siehst. Ein anderer, hat ein anderes Fenster, und sieht die Umstände ganz anders. Und das ist eine innere Flexibilität und Beweglichkeit. Dann weitet sich der Raum, und das ist ein unglaublicher Reichtum! Weil ich nicht mehr in meinen eigenen Vorstellungen eingezwickt bin, was ich mir bieten lassen darf.
Ich bin tief überzeugt, dass das Potential, das uns Menschen gegeben ist, nur zu einem Bruchteil genutzt wird. Das Potential an geistigen Fähigkeiten, an Spiritualität, das ist eine Quelle an Fähigkeiten und Macht. Macht über sich selber. Wenn man das einmal erfahren hat, dann ist es leichter, Verletzungen auszuhalten, weil es keine mehr sind. Es hat mit mir nichts mehr zu tun, wenn mich jemand verletzt. Das sind Prozesse, die man erst mal erkennen muss. Niemanden wird das im Vorhinein geschenkt.
Meine tiefste Sehnsucht war immer die nach der inneren Freiheit. Schon Friedrich Nietzsche hat gesagt, er habe Momente der größten Freiheit in Einzelhaft in Sibirien erlebt; Also es geht um etwas, das sich nur in uns selber abspielt.

Es hat also mit Werten zu tun, die viele Menschen neu entdecken müssen.
Cecily Corti: Vor allem darauf kommen, dass die scheinbaren Werte vergänglich sind. Es ist ein langer Lernprozess, und jeder stößt über seine eigenen Stolpersteine.

Soll man auf einen Schneeballeffekt hoffen?
Cecily Corti: Resonanz ist wichtig. Am Anfang hörte ich oft ich sei verrückt, was will ich denn mit besoffene Sandler? Und heute habe ich so viele Mitarbeiter, dass ich ihnen absagen muss.
Der anstrengende Teil ist die Kontinuität, das Einteilen.

Kennen Sie Feierabend auch?
Cecily Corti: Ja. Ich habe Momente, in denen mich nichts belastet. Ich komme nach Hause, habe Stille, das ist tiefstes Ausruhen. Und wenn ein Austausch stattfindet, das ist etwas Wunderbares.

Vielen Dank, Frau Corti, für dieses Gespräch.